Mai 2022, im Klassenraum H 10 des Gymnasium Philippinum herrscht große Aufregung. Zum ersten Mal kommen hier 15 Jugendliche zwischen 13 und 15 Jahren zusammen. Sie sind aus den verschiedensten Regionen nach Deutschland geflüchtet. Die Jugendlichen wuseln umher, reden untereinander, Neugier und Aufregung liegen in der Luft.
Das Programm beginnt mit der Begrüßung durch die Schulleitung, Herr Breining und Frau David heißen die jungen Menschen herzlich willkommen. Im Anschluss lernen sie bei einem Rundgang die Schule kennen, die Führung durch das Schulgebäude und über das Schulgelände übernehmen ukrainisch-/russischsprachige Schüler*innen des Philippinum. Es ist den jungen Ukrainern anzusehen, wie froh sie darüber sind, wieder an einem normalen Schulalltag teilnehmen zu können. Für die nächsten Wochen besteht der Unterricht aus 22 Wochenstunden Deutsch. Die Klasse wird von Frau Münzer geleitet, außerdem gehören zum Klassenteam Frau Büchi, Frau Lameli und Frau Storozenko.
Es scheint Liebe auf den ersten Blick zu sein. Schon nach wenigen Tagen haben sich die neuen Schüler*innen gut eingelebt und fühlen sich sichtbar wohl. In den großen Pausen spielen sie das in ihrer Heimat beliebte Spiel „Vybivala“: Alle Spieler*innen stehen in der Mitte, bis auf zwei Schüler*innen, die von außen auf beiden Seiten versuchen, die Schüler*innen in der Mitte mit dem Ball zu treffen. Schon bald spielen auch deutsche Schüler*innen mit.
Am Nachmittag nehmen einige an den Sport-AGs teil oder spielen in der Sporthalle Basketball. Zusätzlich finden in regelmäßigen Abständen am Nachmittag Gesprächsrunden statt, in denen sich die ukrainischen und die Schüler*innen der 9C mit ihrem Klassenlehrer Herrn vom Schloss über Hobbies, persönliche Interessen und landeskundliche Themen austauschen. Es kommt zu ersten Erzählungen von Seiten der ukrainischen Schüler*innen über ihre Fluchtgeschichten. Die Mutigen versuchen, in leichtem Deutsch zu berichten, ansonsten helfen Schüler*innen der 9C und Frau Storozenko beim Übersetzen.
In der Mitte des Stuhlkreises liegt die Landkarte der Ukraine ausgebreitet, auf der die Schüler*innen die Fluchtwege nachvollziehen können. Besonders schwierig war es für die Jugendlichen aus der Ostukraine, dem Kriegsgeschehen zu entkommen. So mussten sie beispielsweise in abgedunkelten Nahverkehrszügen auf dem Boden unter Jacken liegen und sich ganz still verhalten. In den überfüllten Aufnahmestationen in Polen und später in den Unterkünften in Deutschland wird ihnen bewusst, was es heißt, ein Flüchtling zu sein: fremde Sprachen, Schlangen bei der Essensausgabe, Behördengänge, eine ganz neue Kultur. Eine Schülerin erzählt, wie während der Flucht der erste Suppenteller in ihrer Hand für sie versinnbildlicht hat, dass sie nun ihr altes Leben hinter sich gelassen hat und in eine ungewisse Zukunft geht.
Die jungen Menschen versuchen täglich mit ihren Eltern, Verwandten oder Freunden in der Ukraine in Kontakt zu sein. Viele der Nachrichten auf Telegram machen ihnen Sorgen, denn neue Angriffe bedrohen immer wieder das Leben von zurückgebliebenen Angehörigen.
Zum Ende des Schuljahres fragen sich die mittlerweile 19 ukrainischen Schüler*innen, wie es wohl weitergehen mag. Einige von ihnen wollen zurückkehren, so wie eine Mitschülerin, die bei ihrer Tante in Marburg gewohnt hat, und nun seit vier Wochen wieder in Lviv ist. Andere können sich vorstellen zu bleiben, um sich hier ein neues Leben aufzubauen. Die Situation ist besonders für die jungen Menschen schwierig, die nicht mit ihren Eltern fliehen konnten, denn sie sind von den Entscheidungen der sie begleitenden Freunde oder Verwandten ihrer Eltern abhängig. Was aber sicher ist – das Gymnasium Philippinum ist ihnen ein sicherer Hafen geworden.
Autorin: Dr. Victoria Storozenko, Referendarin Gymnasium Philippinum, Fächer: Englisch und Spanisch, Deutsch als Zweitsprache als Zusatzfach.