Ein Klassenzimmer für kranke Kinder

Philippiner*innen schreiben in der OP

Schulbildung trotz Erkrankung: So funktioniert das Konzept der Hans-Rettig-Schule

Von Jonathan Hundt, 8a, Gymnasium Philippinum

Gießen. Ein Kliniksaufenthalt bedeutet für manche Kinder schmerzhafte Therapien, Operationen, Trennung von der Familie, Isolation, Langweile, technisierte Umgebung und Angst, nie wieder völlig gesund zu werden. Da gerät Schule zunächst aus dem Fokus. Onkologisch erkrankte Kinder erhalten jedoch immer wieder Chemotherapien, wieder andere warten monatelang auf der Kinderintensivstation auf ein Spenderorgan. Kinder mit Mukoviszidose oder Diabetes bleiben immer wieder stationär zur Einstellung von Medikamenten. Aber auch Unfälle, Infektionen und andere schwere Erkrankungen führen zu langen Klinikaufenthalten.

Lehrpersonal braucht ein Gespür für das kranke Kind

Wenn Kinder so aus dem Alltag herausgerissen werden und die reguläre Schule verpassen, kommen Sorgen auf, ob sie in ihre Klasse zurückkommen können oder den Anschluss verpassen, ob sie ihre Klassenkameraden und Freunde verlieren. Deshalb gibt es die Hans-Rettig-Schule.

Die Schulleiterin Frauke Döll berichtet: „Einige der Schüler müssen in der Krankheit in ihrem Lernübereifer gebremst und andere zum Lernen aktiviert bzw. aus der Lethargie gerissen werden. Die unterrichtenden Pädagoginnen und Pädagogen brauchen ein Gespür für das kranke Kind, um weit über die schulstoffrelevante Arbeit hinaus einen Beitrag zur gesundheitlichen Besserung beziehungsweise Genesung des kranken Kindes zu leisten. Unterricht lenkt nicht nur von der Krankheit ab, sondern bringt auch gewohnte Strukturen zurück. Der Unterricht soll die Kinder aus ihrer aufgezwungenen Passivität herausführen.“

An die Lehrkräfte sind hohe Anforderungen gestellt. Sie benötigen „Bauchgefühl“, Flexibilität und viel Empathie, damit Vertrauen zwischen Schülerinnen/Schülern und Lehrerin/Lehrer entsteht. Außerdem darf durch den Unterricht der Kernfächer Mathe, Deutsch und Fremdsprachen kein Leistungsdruck entstehen, da die Krankheit und die Genesung im Vordergrund steht. Gleichzeitig soll der Unterrichtsstoff dem der Heimatschule für die spätere Re-Integration entsprechen. Dazu ist ein enger Kontakt zu der Heimatschule nötig.

Bis zu 100 Schüler erhalten Unterricht

Die Lehrkräfte müssen sich auf die verschiedensten Lehrwerke einstellen, denn ihre kranken Schülerinnen und Schüler kommen aus Hessen, aber auch aus anderen Bundesländern, sogar aus dem Ausland. Wenn von ärztlicher Seite nichts dagegenspricht, findet der Unterricht statt. Trotzdem muss die Lehrkraft während des Unterrichts auf Veränderungen gefasst sein. Jederzeit kann etwas passieren.

Die Arbeitsbereiche einer Schule für Kranke unterscheiden sich zu den normalen Regelschulen etwa dadurch, dass die Kollegen einer Schule für Kranke regelmäßig an Besprechungen mit Ärzten und medizinischem Personal teilnehmen, dafür aber keine Klassenfahrten oder Elternabende machen.

Ebenso konnte die Schule für Kranke während der kompletten Coronazeit unverändert und ohne Einschränkungen in Präsenz weiterarbeiten. Denn die Lehrerinnen und Lehrer werden in der Klinik wie medizinisches Personal behandelt. Sie sind alle vollständig geimpft, testen sich täglich und bekommen Schutzausrüstungen von der Klinik gestellt.

Jede Woche werden zwischen 60 und 100 Schülerinnen und Schüler aller Schulformen, von Vorschule über Berufsschule bis hin zum Abitur, von derzeit zwölf Lehrkräften unterrichtet. Neben dem Unterricht in der Klinik erteilen die Lehrerinnen und Lehrer der Hans-Rettig-Schule auch häuslichen Sonderunterricht, wenn die kranken Schülerinnen und Schüler nach dem stationären Aufenthalt noch nicht gleich ihre Heimatschulen besuchen dürfen.

Falls die Krankheit überstanden ist, klatschen die Kinder zum Abschied einen farbigen Handabdruck an die weiße Wand der Schule, vor allem aber an die Wände der Stationen. Die Wände werden bunter und bunter.

Quellenangabe: OP Marburg/Ostkreis vom 17.08.2022, Seite 8