Fortschritt oder Rückschritt durch künstliche Intelligenz?

Schülersprecher des Philippinums und Religionslehrer der Stiftsschule Amöneburg über die Veränderungen in der Schule

Ein Artikel aus der Oberhessischen Presse vom 03.12.2025

Von Luis Bretthauer

Marburg. Wenn man an das Klassenzimmer der Zukunft denkt, wird künstliche Intelligenz nicht weit entfernt sein. In den Schulen von heute steckt KI noch in den Anfängen. Schülerinnen und Schüler wissen sich aber schon zu helfen. Hausaufgaben formulieren und Präsentationen erstellen: wozu? Wenn doch die künstliche Intelligenz innerhalb von Sekunden aushelfen kann?

„Gegenüber menschlichen Lehrern hat KI einige Vorteile“, trägt Leo Schneider, Schülersprecher des Philippinums Marburg, zusammen, was ihm 40 Schülerinnen und Schüler zuvor zugespielt haben. Ob Diskussion mit der KI, generierte Videos und Podcasts oder Fallbeispiele zu spezifischen Themen: KI Tools wie ChatGPT individualisieren das Lernen. „Wenn man zu Hause am Schreibtisch sitzt, geht das mit der Lehrkraft natürlich nicht“, betont Schneider.

KI sei zudem günstiger als beispielsweise ein Nachhilfelehrer, geduldig und freundlich, „manchmal etwas überfreundlich“, teilt Schneider seine Erfahrungen. Eine Chance sieht der 17-Jährige auch bei einer faireren Bewertung: „KI hat keine Lieblingsschülerinnen und Lieblingsschüler.“

Werden schriftliche Hausaufgaben obsolet?

Dass das Zwischenmenschliche fehle, sei bei der KI aber nicht der alleinige Nachteil: „Eine KI schwafelt gerne. Lehrer aber auch manchmal“, scherzt Schneider, der seit diesem Schuljahr Schülersprecher ist. Auch im Unterricht könne KI mit neuen Methoden motivieren. Im Ethik-Unterricht habe eine Lehrerin des Philippinums Immanuel Kant digital erstellen lassen und den Schülern so den direkten Austausch mit dem deutschen Philosophen ermöglicht. „Das ist aber eine Ausnahme. Die meisten Lehrkräfte gehen das eher konservativer an und versuchen das irgendwie zu vermeiden“, ordnet Leo Schneider ein.

„Aber was, glaube ich, allen aufgefallen ist, ist, dass schriftliche Hausaufgaben in dieser Art und Weise, wie es sie in den vergangenen Jahrzehnten gab, einfach relativ sinnlos geworden sind“, unterstreicht der Marburger Schüler. „Man setzt sich nach der Schule an den Schreibtisch und lässt die KI die Hausaufgaben machen. Dann schaut man es nicht an oder guckt nur kurz drüber“, beschreibt Leo Schneider beispielhaft. Wenn die KI die Hausaufgaben mache, sei weder Wiederholung noch Wissenssicherung gegeben.

Stattdessen regt er dazu an, dass den Schülern mehr Eigenverantwortung übertragen werde: Statt Hausaufgaben zu vergeben, sollen die Lehrkräfte das Verstehen von Prinzipien auftragen. Ganz unabhängig davon, wie das Verständnis erlangt wird.

Wenn schriftliche Abgaben durch KI an Bedeutung verlieren, erleben dann mündliche Prüfungssituationen einen Aufstieg? Da sei sich der Marburger Schülersprecher unschlüssig: „Die Frage ist, wie sich das in der Realität umsetzen ließe, wenn die Lehrkraft jeden Einzelnen ständig persönlich abfragt.“ Angesichts der enormen Unsicherheiten über die künftigen Entwicklungen der künstlichen Intelligenz und ihrer Wirkung scheinen Prognosen über die Zukunft ein Ding der Unmöglichkeit. Mit „deutlichen Verschiebungen am Arbeitsmarkt“ wagt das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung in ihrer in 2025 erschienen Studie eine Voraussage.

Das jetzige Angebot reiche „absolut nicht“ aus

„KI wird im Arbeitsleben überall mehr Anwendung finden“, ist sich auch Leo Schneider sicher. Von der Unterscheidung zwischen Realität und KI bis zum Verfeinern der Handhabung von den zahlreichen, auf KI basierenden Werkzeugen: Schneider spricht sich für mehr Förderung von Medienkompetenz an Schulen aus: „Nicht einfach hingehen und sich irgendwie abschotten. Weil das wird in der Zukunft einfach dazugehören.“

Das jetzige Angebot reiche „absolut nicht“ aus, bekräftigt der 17-Jährige. Ein Blick auf die aktuelle Studie von Wolters Kluwer macht dies greifbar: Während rund 70 Prozent der Schulen über kein Konzept zur Förderung von KI-Kompetenzen im Kollegium verfügen, wünschen sich entsprechend über 80 Prozent der Befragten mehr Wissen über geeignete KI-Tools. Es gehe nicht darum, sich hundertprozentig auf künstliche Intelligenz zu verlassen: „Dann schränkt das definitiv Kreativität und kritisches Denken ein.“ KI brauche kein eigenes Schulfach, sondern mehr Fortbildungen für Lehrkräfte und mehr Integration in den Unterricht, resümiert der Marburger.

„Es gibt noch keine didaktische Integration“, sagt Sebastian Rädel, der an der Stiftsschule in Amöneburg Religion und Geschichte lehrt. Dafür sei KI zu neu, erklärt er und fügt hinzu: „Das klingt zwar komisch im Zeitalter der unglaublichen Beschleunigung, aber so schnell sind wir nicht an der Schule.“

Dass Prompting, also die Steuerung der KI durch gezielte Eingaben, in den Lehrkatalog aufgenommen wird, dauere also noch. „Wir haben ja im Curriculum noch nicht mal ernsthaft verdaut, dass es tonnenweise Fake News gibt.“ Natürlich habe die Schule den Auftrag, den Zahn der Zeit mitzunehmen, aber „wie willst du das machen, wenn sich der Zahn der Zeit alle fünf Jahre ändert? Das ist einfach unglaublich schwer.“

Das gedankenlose Nutzen von KI bemerke Rädel schon: „Weil natürlich Schülerinnen und Schüler, die sonst eher schwächer formulieren, plötzlich mit Formulierungen um die Ecke kommen, die sie eigentlich nicht beherrschen.“ Darüber hinaus „weisen wir immer wieder darauf hin, dass sich die KI aktuell Sachen zusammenspinnt und auch mit Quellen nicht sauber arbeitet“.

Ob das „plumpe Ermahnen“ ausreiche? „Wahrscheinlich nicht“, schätzt der Lehrer ein. Das Kernproblem bestehe darin, dass zunehmend grundlegende Fähigkeiten wie Rechtschreibung oder Verständnis von Texten ins Hintertreffen gerieten. Mit dem Aufstieg der KI gehe gleichzeitig „die Kompetenz von Kindern in ihrer Selbstständigkeit massiv nach unten“. Überforderung der Kinder zeichne sich schon mit den einfachsten Aufgaben ab, erklärt der im Lahntal lebende Religions- und Geschichtslehrer.

Schüler schauen mit Sorge auf KI

KI im Unterricht zu nutzen, könne motivational sein, sei aber kein Selbstzweck, kontrastiert er weiter: „Ich habe irgendwann gelernt, dass es immer wichtig ist, dass die Methodik dem Inhalt unterliegt.“ Der 44-Jährige könne sich aber vorstellen, „dass es total cool ist, mal mit so was zu arbeiten“. Echte Selbstwirksamkeit erreiche man allerdings nur mit eigenem Schaffen. „Wenn man aber dieses Gefühl ‚Ich kann was schaffen‘ digitalisiert, was wird dann aus einer Generation, die nur noch lernt, dass jemand anderes was für sie macht?“, treibt Rädel es veranschaulichend auf die Spitze.

Auch die Schülerinnen und Schüler schauen differenziert auf die Entwicklungen, teilt Rädel seine Erfahrung: „Ich habe schon Gespräche darüber geführt, dass Schüler Angst vor KI haben. Vor der Bedrohung ihres Arbeitsplatzes, ihrer Zukunft.“ Der Umgang mit den Nebenwirkungen von technischen Entwicklungen, wie auch den Sozialen Medien, sollte aber nicht allein auf dem Rücken der Schule getragen werden liegen, findet Rädel und betont: Auch Regulierungen müssen greifen.

Quellenangabe: Oberhessische Presse vom 03.12.2025, Seite 2